Abenteuer im Fluss

 

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 Das Abenteuer im Fluss

Eines Tages waren etwa sechzig Krieger vom Stamm der Crow ausgezogen, um das Lager eines verfeindeten Stammes nördlich des Yellowstone-Flusses anzugreifen. Sie erbeuteten einige Pferde und konnten entkommen, ohne verfolgt zu werden. Auf ihrem Rückweg überquerten alle Krieger ohne Schwierigkeiten den Fluß, alle, außer einem Mann mit Namen Schlanke Frau. Er ritt das beste Pferd von allen. Obwohl es nie zuvor Angst vor dem Wasser gehabt hatte, zeigte es jetzt jedesmal, wenn es sich dem Fluß näherte, große Furcht. Trotz aller Versuche seines Reiters, es ins Wasser zu zwingen, wandte es sich mehrere Male ab. Endlich sprang es hinein. In der Mitte des Flusses aber bäumte es sich ungestüm auf, warf seinen Reiter ab und kehrte ans Ufer zurück.

Schlanke Frau wollte sein gutes Tier nicht verlieren und schwamm zum Ufer zurück. Ein zweites Mal zwang er sein Pferd in den Strom. In der Mitte aber bäumte es sich erneut auf und warf ihn ab. Diesmal schwamm sein Pferd zum gegenüberhegenden Ufer und ließ seinen Reiter, mit den Wellen kämpfend, zurück.

Obwohl die Strömung an der Stelle sehr stark war, trieb Schlanke Frau nicht ab. Und obwohl der Fluß sehr tief war, konnte er sich bald aufrichten, bis nur noch sein Unterkörper unter Wasser war. Aber er konnte anscheinend nicht ans Ufer kommen.

»Warum kommst du nicht?« riefen seine Freunde. »Ich kann nicht«, antwortete er. »Etwas unter Wasser hat mich gepackt und hält mich fest.«

Warmes Pferd, ein tapferer junger Mann, zog sein Messer und sprang ins Wasser, um seinem Freund zu helfen. Aber als er die Stelle erreichte, versank Schlanke Frau und war nicht mehr zu sehen. Warmes Pferd und seine Begleiter suchten lange den Fluß ab, konnten aber Schlanke Frau nicht mehr erblicken. Da betrauerten sie seinen Tod und kehrten zum Crow-Dorf zurück, wo sie die Geschichte von seinem Verschwinden erzählten.

Als die Trauerzeit beendet war, erbot sich ein Krieger mit Namen Donner Medizin, zum Fluß zu gehen und den Körper des verlorenen Mannes wiederzufinden. Donner Medizin, ein Verwandler von Schlanke Frau, war ein Mann mit großer geistiger Kraft, die er vom Donner hatte. Seine Freunde flehten ihn an, nicht zu gehen, eine so gefährliche Reise nicht zu unternehmen. Aber Donner Medizin war fest entschlossen. Er überredete Langes Pferd, der bei jenem Kriegszug mit dabeigewesen war, mit ihm zu gehen und ihm die Stelle zu zeigen, wo Schlanke Frau verschwunden war.

Als sie die Stelle erreichten, führte der Fluß Hochwasser, und die Strömung war sehr stark. Langes Pferd sorgte sich um seinen Freund.

"Laß uns zurückkehren", sagte er zu Donner Medizin. »Du wirst in diesen tobenden Fluten ums Leben kommen."

Donner Medizin aber war überzeugt, daß seine besondere Kraft stark genug war, ihn zu beschützen. Er zog seine Kleider aus und gab Langes Pferd Anweisungen, ehe er ins Wasser stieg: »Gehe ein Stück weit vom Ufer weg. Schaue dich nicht nach dem Fluß um, sonst zerstörst du den Zauber und gefährdest mein Leben."

Als Langes Pferd außer Sicht war, glitt Donner Medizin ins Wasser. Er hatte erwartet, sogleich in die Tiefe zu sinken, fand sich aber in Hüfthöhe auf weichem Grund, wie auf einem Grasteppich getragen. Mühelos gelangte er zu der Stelle, wo Schlanke Frau ertrunken war. Hier trug ihn plötzlich der weiche Grund nicht länger, und er versank. Alles, was er sehen konnte, war, daß er rasch von der Strömung mitgerissen wurde; wie weit, wußte er nicht. Plötzlich fiel er über ein Bootswrack und befand sich an einem trockenen Ort auf dem Grund des Flusses.

Dieser Ort, etwa dreizehn Meter im Durchmesser, war auf allen Seiten von felsigen Wänden umgeben. Oben stürzte das trübe Wasser von einer Seite des eingeschlossenen Raumes auf die andere und dann weiter, ohne daß auch nur ein Tropfen die Stelle erreichte, an der Donner Medizin stand. Zu seiner Verblüffung sah er in der Mitte der trockenen Stelle eine zerfallene Hütte, deren Dach beinahe das oben wütende Wasser berührte. Als Donner Medizin darauf zuging, öffnete ein kleines Mädchen die Tür, und er ging hinein. In der Hütte sah er einen alten Mann und eine alte Frau mit gesenkten Köpfen sitzen. Als er eintrat und sich ihnen gegenübersetzte, hoben sie weder ihre Köpfe, noch sprachen sie zu ihm. Er sah, daß sie runzelig und zerlumpt waren; sie schienen sehr alt und sehr arm zu sein. Wahrscheinlich sind sie Mann und Frau, dachte er bei sich, und das kleine Mädchen ist ihre Tochter.

Dann hörte er, wie die Frau zu ihrem Mann sprach, ohne ihren Kopf zu bewegen: »Mein Kind ist weit bis ins Land seiner Feinde gereist, um den Körper des Mannes zu finden, den du ertränkt hast. Ich habe dich gebeten, seinen Körper nicht zu essen. Ich wußte, daß seine Freunde kommen würden, ihn zu holen. Hast du denn nicht genug zu essen? Mußt du Menschen ertränken und verschlingen?« »Wir haben vielleicht noch Reste seines Freundes«, sagte der alte Mann mit ernster Stimme. »Er wird sie bei der Tür finden.«

Donner Medizin fand neben der Tür alle Knochen von Schlanke Frau, außer dem Schädel. An den Knochen hingen noch Fleischreste. Er fand auch die weiße Perlenhalskette von Schlanke Frau und seine Ohrringe aus kostbaren Muscheln. Diese sammelte er und machte sich bereit, sie mitzunehmen.

Dann sah er, wie der alte Mann mit einem Pferd an der Hand auf ihn zukam. Das Pferd war wie die Pferde der Menschen, aber sein Haar war von der feinen Beschaffenheit und Geschmeidigkeit von Tieren, die im Wasser leben. »Du darfst dieses Pferd mitnehmen«, sagte der alte Mann zu Donner Medizin.

Gerade als er das Halfter nehmen wollte, schrie die alte Frau: »Nimm es nicht, mein Kind! Nimm es nicht!« »Warum nicht?« fragte er, überrascht von ihrer Eindringlichkeit.

»Ich möchte nicht, daß dir etwas zustößt, mein Kind«, erwiderte sie. »Ich meine es gut mit dir. Das Pferd ist nicht wie die Pferde in deinem Land. Es wird ein Feind eurer Pferde sein, und es hat die Kraft, sie zu töten. Dieses Pferd wird die anderen beißen, und jedes gebissene Pferd muß sterben. Höre auf meinen Rat, und lehne das Geschenk ab.«

Während die alte Frau sprach, sagte ihr Mann nichts. Sein Kopf blieb gebeugt, verdrossen schweigend. Donner Medizin hatte das sichere Gefühl, daß die alte Frau die Wahrheit gesprochen hatte, und so dankte er dem alten Mann, ließ ihm aber das Pferd. Zufrieden mit der Antwort des Fremden und offenbar besorgt, daß ihm eine neue Gefahr drohen könnte, sprach sie nochmals zu ihrem Mann: »Der Freund meines Kindes steht am Flußufer und weint um ihn, denn er glaubt, daß er wie Schlanke Frau ums Leben gekommen ist. Laß also mein Kind gehen, so daß er seinen Freund beruhigen kann. Laß ihn mit den Knochen von Schlanke Frau zu seinem Volk zurückkehren.« »Gut«, sagte der alte Mann im selben ernsten, verdrossenen Ton. »Er soll sich auf meine Handflächen stellen und die Augen schließen.«

Er legte seine Hände mit dem Rücken auf den Boden, so daß Donner Medizin sich daraufstellen konnte. Donner Medizin tat, wie ihm geheißen worden war. Plötzlich spürte er, wie er durch das Wasser wirbelte; bald darauf stand er auf dem trockenen Flußufer. Auf der gegenüberliegenden Seite sah er Langes Pferd, der auf und ab ging, sich geißelte und um seinen Freund trauerte, den er tot wähnte. Groß war seine Überraschung und seine Freude, als Donner Medizin ihm zurief, daß er am Leben sei.

Donner Medizin hatte Angst, nochmals ins Wasser zu gehen, um das andere Ufer zu erreichen. Aber Langes Pferd sprach ihm Mut zu, und so sprang er hinein; die Knochen und den Schmuck von Schlanke Frau trug er immer noch bei sich. Zu seiner Überraschung fand er sich von demselben weichen, grasähnlichen Grund getragen wie zuvor. Das Wasser war viele Meter tief, und doch ging er hinüber, ohne tiefer als bis zur Taille einzusinken.

Langes Pferd erwartete ihn am Flußufer und hörte verwundert die Geschichte seines Abenteuers in der merkwürdigen Hütte unter dem Wasser. Gemeinsam kehrten sie in ihr Dorf zurück. Zusammen mit ihren Freunden begruben sie die Knochen von Schlanke Frau; die Halskette und Ohrringe aber behielt Donner Medizin als Zeichen seiner geheimnisvollen Kraft. Aufgrund dieses Erlebnisses wurde er als einer der kraftvollsten Medizinmänner seiner Zeit geehrt.