Mond & Gemahlin

 

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 Der Mond und seine Gemahlinen

Mit inniger Liebe blickten die alten Inder zum Monde hinauf. Seinen milden Schein empfanden sie wie einen Labetrank der Seele. Und wenn sie Nacht für Nacht sein Zu- oder Abnehmen betrachteten, erinnerten sie sich gern einer Sage, die ihren Vorfahren erzählt worden war:

Damit der Mond auf seiner Wanderung über den Himmel nicht im Dunkeln herumtappe, schenkte ihm der Sonnengott siebenundzwanzig seiner schönen Töchter. Die wurden nun seine Gemahlinnen, lieblich anzusehen, mit lichtspendenden Augen. Sie verstanden es, die Zeiten zu zählen bei ihrem Gang über den gestirnten Himmel. Doch überstrahlte mit ihren vollen Wangen die herrliche Rohini alle ihre Schwestern. Und so hatte der Herr der Nacht das größte Gefallen an ihr und wollte immer nur bei ihr sein.

Da zürnten ihm seine anderen Frauen und eilten zu ihrem mächtigen Vater, um sich zu beklagen: »Unser Gemahl liebt nur die Rohini und will immerfort nur bei ihr wohnen. Uns alle hat er ganz vergessen. Darum möchten wir zurück zu dir ins Vaterhaus. «

Als der Sonnengott diese Klage vernahm, rief er den Mond zu sich und sprach: »Vernachlässige nicht wegen der Vollwangigen deine anderen Frauen; so du das tust, begehst du eine große Sünde! « Dann aber wandte er sich zu seinen Töchtern: »Geht wieder zu eurem Gemahl. Hinfort wird er der Reihe nach bei euch allen einkehren! « Da gingen seine Töchter in das Haus des Mondes zurück. Er aber, der Kühlstrahlende, vergaß sie sogleich und wohnte wie zuvor nur bei Rohini, die er immer lieber gewann.

Das gefiel den Schwestern nicht, und sie eilten aufs neue zu ihrem mächtigen Vater. »Erlaube uns doch, ins Vaterhaus zurückzukommen«, jammerten sie, “denn an uns denkt der Gemahl so wenig wie zuvor; was du ihm befohlen hast, war ganz vergeblich. «

Wiederum rief ihr Vater, der Sonnengott, den Herrn der Nacht zu sich und ließ seine gewaltige Stimme hören: »Bei allen deinen Gemahlinnen wohne, du nächtlich Leuchtender, sonst trifft dich mein Fluch! « Der Mond aber achtete auch dieser Drohung nicht, sondern in seinem Wahn befangen hielt er sich immer nur bei Rohini auf. Geneigten Hauptes begaben sich die enttäuschten Schwestern zu ihrem Vater und erhoben weinend die alte Klage:

»Von uns will er nichts wissen, nur der Rohini steigt er ständig nach. Nimm uns, o Vater, in deinen Schutz. Bei dir wollen wir wohnen und ein Leben der demütigen Entsagung führen. «

Jetzt ergrimmte der Sonnengott, der Herr des Tages, und schickte im Zorn die Schwindsucht über den Mond. Von dieser erfasst, begann er zu verblassen und wurde mit jeder Nacht schwächer und kleiner. So sehr er sich auch mit Opferspenden bemühte, die zehrende Krankheit zu überwinden, es war umsonst. Nicht einmal Rohini vermochte ihn zu erheitern.

Wie aber der Mond am Himmel schwand, da begannen alle Pflanzen zu welken. Die Kräuter verloren ihren Geschmack, dahin war alle Kraft. Als nun die Kräuter verdarben, siechten auch die Tiere dahin, ja sogar die Menschen wurden schwach, und ihr Untergang nahte.

In dieser Not versammelten sich die Götter und sprachen zu dem Herrn der Nacht: »Wie kommt es, dass dein Gesicht verblasst ist? Sage uns, was bedeutet dieses Dunkel? Wenn wir es wissen, wollen wir bedenken, wie dir zu helfen ist. «

Da gestand der Mond, wie er von dem Vater seiner Gemahlinnen verflucht worden war und wie die Schwindsucht ihn ergriffen habe. Die Götter aber wandten sich an den Sonnengott und sprachen zu dem Erhabenen: »Erbarme dich, o Herr des Tages, und nimm den Fluch zurück. Denn bis auf einen blassen Schimmer ist nun der Mond verzehrt. Verschwindet aber der Mond, dann verdirbt ja alles Kraut und Gras, alle Pflanzen insgesamt. Somit kommen aber alle Tiere an ihr Ende, letztlich auch die Menschen und alles Leben. Selbst die Götter werden nicht verschont. Was wird dann von der Welt noch bleiben? «

Der Vater des Tages und des Lebens antwortete: »Ein von mir gesprochenes Wort kann nicht zurückgenommen werden. Doch unter einer Bedingung will ich die Kraft meines Fluches beschränken. Falls der Mond künftig, ohne zu fehlen, bei allen seinen Gemahlinnen Einkehr halten will, soll ihn nur in der einen Hälfte des Monats die Schwindsucht befallen. Dann soll er in die heilige Flut untertauchen und neue Kraft gewinnen, damit er wieder wachsen kann. «

So sprechend entließ Brahmas strahlender Sohn die Götter. Der Mond aber eilte an das Ufer des heiligen Meeres, um neues Wachstum zu gewinnen. Und wirklich, nach dem Bad tauchte der Kühlstrahlende mit verjüngtem Glanz hervor. Wieder grünte nun das Gras, und die Kräuter erhielten ihren guten Geschmack. Tiere und Menschen genasen und wuchsen kräftig wie zuvor.

Seither ist der Mond allen seinen siebenundzwanzig Gemahlinnen treu geblieben. Er weilt bei jeder eine Nacht und zieht dann zu der nächsten weiter. Und immer nimmt er den halben Monat ab, verschwindet für eine Nacht in dem heiligen Bad und steigt alsdann mit neuer Kraft hervor.