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Usinaras MitleidAm Ufer des Flusses Jamuna brachte einst der fromme König Usinara den Göttern ein Opfer dar. Als das Feuer brannte, siehe, da kam eine Taube, von einem Habicht scharf verfolgt, und suchte an der Brust des Königs Zuflucht. Da sprach der Habicht: »Großer König, aller Orten rühmt man deine Pflichttreue. Warum tust du jetzt, was jeder Pflicht zuwider ist? Mich plagt der Hunger, du aber entziehst mir die Speise, auf die ich angewiesen bin.« Der König gab zur Antwort: »Stolzer Vogel, diese liebliche Taube kam zu mir, um sich vor deinen grausamen Klauen zu retten. Wie kannst du meinen, dass es mir Pflicht sei, meinen Schützling, diesen unschuldigen Vogel, an seinen Todfeind auszuliefern? Hast du denn vergessen, dass, wer die heilige Kuh tötet oder einen Brahmanen erschlägt oder wer seinen Schützling ausliefert, alle gleich schwer gesündigt haben?« Der Habicht entgegnete: »Auf Nahrung sind alle lebenden Wesen angewiesen. Andere Schätze kann ein Tier entbehren, nur die Speise nicht, denn von Speise nährt sich alles, was Odem hat. Wenn mir jetzt durch deine Verweigerung meine Speise entzogen wird, dann muss der Hauch meines Lebens in des Todes Reich hinübergehen. Sterbe aber ich, werden mir mein Weib und meine hungernde Brut bald nachfolgen. Indem du eine einzige Taube erhalten willst, übergibst du uns alle dem Tod. Kann dir nun das eine Pflicht sein, was mit anderen Pflichten in Widerspruch steht? Und soll man nicht, wo Pflicht gegen Pflicht streitet, stets der größeren folgen?« Usinara antwortete: »Du redest weise und bist der Pflichtenlehre wohl kundig. Vielleicht bist du der König der Vögel, der alle Dinge weiß ? Wie aber denkst du zu begründen, dass es gerecht sei, einen Schützling auszuliefern? Das gebietet wahrlich keine Pflicht! Doch gern gebe ich dir, hochweiser Vogel, aus dem Vorrat meines Hauses. Nimm, soviel du begehrst, vom Fleisch des Stieres, des Ebers oder Hirsches oder was sonst du möchtest. Sag an, es soll herbeigeschafft werden.« Der Habicht aber versetzte: »Weder Stiere noch Hirsche oder Eber sind meine Speise. Der Wesensschöpfer hat mich auf die Taube verwiesen, und in alle Ewigkeit wird der Habicht nach keiner anderen Nahrung verlangen. Darum, o König, säume nicht länger, sondern lasse mir, was mit Recht mein ist.« Darauf sprach der König: »Ich lasse dir mein ganzes Reich mit allen Schätzen und allem, was du begehrst. Nur meinen Schützling, diese Taube, gebe ich niemals her!« Da sprach der Habicht: »Wohlan denn, wenn dir diese Taube so am Herzen liegt, dann gib mir von deinem eigenen Fleisch soviel, wie die Taube wiegt.« Usinara besann sich nicht lange und sprach: »Billig und recht scheint mir, was du da verlangst. Hier auf der Waage will ich dir Fleisch von meinem Leibe zumessen.« Und alsbald schnitt der König vom eigenen Leib ein Stück ab, legte es in die eine Waagschale, die Taube aber in die andere. Doch die Taube war schwerer als das Fleisch des Königs. Abermals schnitt sich der König ein Stück ab und legte es zu dem ersten hinzu. Doch die Taube war immer noch schwerer. Usinara ließ nicht nach, Stück um Stück schnitt er vom eigenen Leibe ab, aber die Schale mit der Taube ging nicht hoch. Endlich sprang der König, der sich allen Fleisches beraubt hatte, selbst in die Waagschale. Jetzt erst ward die Taube aufgewogen. Da verschwanden sowohl Habicht als auch Taube, und an ihrer Stelle erschienen zwei Götter vor dem König. Indra, welcher der Habicht gewesen war, sprach: »Ich bin Indra, Herr des Luftraumes, die Taube war Agni, Gott des Feuers. Um deine Tugend zu prüfen, du frommer Fürst, sind wir zu dir herabgestiegen, und du hast die Prüfung herrlich bestanden. Dass du aus deinem eigenen Leibe das Fleisch geschnitten hast, soll dir in aller Welt zum unvergänglichen Lob gereichen. Und solange es auf Erden Menschen gibt, die sich von deiner Tat erzählen, so lange sollst du im Himmel bei den Göttern sein und nicht zu einer neuen Geburt auf die Erde herabsteigen.« Und als die mächtigen Götter sich emporschwangen zu ihrer himmlischen Wohnung, da folgte ihnen Usinara in leuchtendem Glanz.
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